Gedanken zur DDR – an meine liebe TeddyOmi


Wir kamen noch als interessante Republik-Flüchtlinge Anfang der Achtziger Jahre in den Westen, ohne das Stigma des nörgelnden Schmarotzers der 1990er. Man lachte freundlich, ob meines unsäglichen Akzents, fand es niedlich, wenn ich versuchte, im Französischunterricht etwas nachzusprechen, das ich zuvor so noch nie gehört hatte. Auf Klassenfesten mutierte ich zum Partygag, wenn ich die sozialistische Meldung der Jungen Pioniere vor jeder Unterrichtsstunde vortanzte.
„Stillgestanden“, schallte es da vom Gruppenratsvorsitzenden, bevor er sich mit gescheitelter Hand der Lehrerin zuwandte.
„Ich melde, die Klasse 5r2 ist zum Unterricht bereit. Es ist Montag der 8.Juli, die Sonne scheint, wir haben 20 Grad Celsius und Käthe Kollwitz hätte heute Geburtstag gehabt.“
Manchmal dauerte so eine Meldung auch länger, das kam auf die Informationsmenge an, die der Gruppenratsvorsitzende einbauen sollte oder von eigenem Ehrgeiz getrieben auch wollte.
„Seid bereit!“, wandte sich die Lehrerin an uns und meinte damit die Bereitschaft zu Frieden und Sozialismus.
Und wir waren Rebellen im Herzen wenn wir heimlich „Nimmer bereit!“ zur Antwort schrieen.

Auf den westdeutschen Klassenfesten erhielten meine Erzählungen ihre ganz eigenen Höhepunkte, wenn wir in trunkener Gemeinschaft eben dieses „Nimmer bereit!“ hinaus brüllten und es letztendlich ernst meinten.

Die Pubertät geschah mir. Das Jetzt zählte. Erinnerungen verloren sich. Die Tänze auf den Klassenfesten wurden enger, der Kampfesruf ein anderer.

Einmal noch sagte einer zu mir, er hatte gedacht, die Menschen in der DDR seien alle hässlich. Falls er damit zu sagen versuchte, dass ich es nicht war und er mich gerne kennen lernen wollte, dann hatte das nicht geklappt.

Irgendwann fiel die Mauer und meine Kindheit gab es so nicht mehr.

Und dann saß ich Anfang des neuen Jahrtausends im Keller meiner Eltern, sortierte Kanusportwimpel, die ich bei ebay einstellen wollte, und erinnerte mich plötzlich wieder.
An die Ananastorte zum Beispiel, die den Beginn des neuen Lebensabschnitts im Westen einläutete und eine Weile auch bestimmte. Gerne initiiert von meiner Mutter, indem sie auf einem Fertigtortenboden eine Dose gezuckerter Aldi-Ananas verteilte.
„Schon wieder Ananastorte“, sagte mein Vater dann, spritzte Sahne aus der Sprühdose hinzu und freute sich diebisch, so etwas sagen zu können.
Denn ein halbes Jahr zuvor hatten wir noch nicht einmal eine Ananas in echt gesehen, geschweige denn an einer gerochen.

Dabei fand ich die sogenannte Ananastorte furchtbar, sehnte mich nach den Obstblechkuchen meiner in bunte Plaste-Kittel gewandeten Omi. Das Obst zum Kuchen erntete sie im Garten, die Eier holte sie den Hühnern unter den warmen Hintern hervor. In ihrer irgendwie immer sonnigen Küche, walkte und walkte sie den Teig mit den Händen, verteilte das kleingeschnittene Obst darauf und dann schulterte sie das Blech und wir liefen über die unbefestigten Lehmwege zum Bäcker des Dorfes, der den Kuchen buk. Einen Backofen besaß meine Omi nicht.

Im Winter gab es statt der Obstkuchen Stolle. Mein Vater nannte sie „Schreistolle“, weil die Rosinen so weit voneinander entfernt waren, dass sie schreien mussten, wenn sie sich unterhalten wollten. Ich mochte sowieso keine Rosinen. Und dick mit Butter und selbstgemachter Marmelade bestrichen, schmeckte die Stolle fast so gut wie der Kuchen im Sommer.
Später lernte ich, dass es eigentlich der Stollen heißt.

Fließendes Wasser, gar eine Toilette, gab es nicht im windschiefen Häuschen meiner Omi auf dem Dorfe. Wir Kinder fanden das klasse. Wurde es abends Zeit zum Waschen musste meine kleine dicke Omi den alten Herd anfeuern, Wasser von der Pumpe vor dem Haus holen, dieses erwärmen und in den Waschzuber gießen. Das dauerte so lange, dass man immer noch eine halbe Stunde länger, als eigentlich ausgemacht war, „Dalli Dalli“ gucken konnte. Und wenn man sich nachts zu sehr fürchtete durch die alte schwarze Scheune zum Plumpsklo-Häuschen hinterm Haus zu laufen, dann pinkelte man eben in den Eimer, der in der Küche stand.

Einmal die Kiste im Keller geöffnet fielen mir die kleinen Zeugnisse meiner sozialistischen Kindheit in die Hände.
Ich hatte gar nicht mehr gewusst, dass ich mir zweimal die Urkunde „für gutes Lernen in der sozialistischen Schule“ erarbeitete und welch wichtige Position als Wandzeitungsredakteur im Klassenkollektiv ich innehatte. Dass ich einst die ABC-Mathematik-Olympiade und die Schwimmspartakiade gewann. Letzteres war jedoch nicht sonderlich verwunderlich, schwamm ich doch seit der ersten Klasse jeden Tag zwei Stunden im Trainingszentrum, um irgendwann einmal die DDR bei den olympischen Spielen zu vertreten.

Ich fand die Beurteilung, die meine linientreue Klassenlehrerin glaubte mir in die Welt des Feindes mitgeben zu müssen:
„Antje nahm im Gruppenrat eine geachtete Stellung ein und erfüllte ihr übertragene Aufgaben sehr vorbildlich.“
War das unter lautem Hallo und Schenkelklopfen im westlichen Lehrerzimmer vorgelesen worden?

Ein buntbemalter Holzteller „Sieger der Mädchen im Dreikampf, Dorffest Hohenwarte 1979“, gefeiert mit Fassbrause, Bockwürsten und Blasmusik der Dorfkapelle, ließ mich die „Adidas für Fußbehinderte“ erinnern: unsere blauen Sportstofflatschen. Die wären heute unfassbar cool.

In den Westen wurde mir ein Jahr nach der Übersiedlung ein Paket von meinen einstigen Klassenkameraden geschickt. Darin fand ich Tütensuppen, Fleischkonserven, trockene Kekse, NVA-Brot aus der Dose, einige „Schlager Süßtafeln“ und die neuste Ausgabe der FRÖSI.
Von ganz oben war berichtet worden, wir würden im Feindesland ein Leben in bitterster Armut fristen, weil meine Eltern unverantwortlicher Weise die für ihre Arbeiter, Bauern und Jungen Pioniere sorgende DDR verlassen hatten, um meine Schwester und mich dem Klassenfeind und seinen Handlangern, den Drogendealern, auszuliefern. In ihrem Entsetzen darüber, hatten mir die zurückgelassenen Freunde ein Carepaket aus dem Osten in den Westen geschickt!
Wir Kinder waren erstaunt, wer denn so einen Unsinn hatte erzählen können, meine Eltern lachten wissend. Aber viel wichtiger waren für mich die im Paket liegenden Briefe der drei tollsten Jungs der alten Heimat, die sich nun endlich getrauten, mir ihre Liebe zu gestehen. Leider zu spät. Zwischen uns lag nun ein unüberwindbarer zehn Kilometer breiter Todesstreifen voller Minen, Selbstschussanlagen und blutrünstigen Mörderhunden und ich bedauerte sehr, diese drei ungeküsst dahinter zurückgelassen zu haben.

In einer Kiste fand ich das kleine graue Papier, das mich als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Verkehrserziehung auswies. Über diese AG durfte ich sogar einmal im Radio erzählen. Ich sprach auch von der Wichtigkeit, den Kleinen ein Vorbild zu sein und alten Leuten über die Straße zu helfen. Beim Interview trugen wir die weißen Blusen mit dem flammenden Emblem auf dem rechten Ärmel, die blauen Pioniertücher und sogar das passende Käppi auf dem Kopf. Dabei konnten die Radiohörer das doch gar nicht sehen! Aber uns vermittelte sich so das warme Gefühl, wichtiger Bestandteil einer wunderbaren Gesellschaft zu sein.

Später gründeten wir einen „Timur Trupp“. Timur, ein enorm hilfsbereiter Junge, dessen Geschichte im Russischunterricht gelesen wurde, war uns als großes Vorbild hingestellt worden. Gemeinsam mit dem kleinen Trompeter, das lustige Rotgardistenblut, das von einer feindlichen Kugel getroffen, lächelnd und Freiheitslieder blasend starb. Wir wollten nicht sterben und Trompete spielen war uncool, aber wir alle wollten ein Timur sein. Also trafen wir uns nach der Schule, in unsere dunkelblauen Plaste-Trainungsanzüge mit Gummiband zum unter den Fuß klemmen gekleidet. Wir spielten Helden und suchten, die Welt zu retten, wo sie gerettet werden musste. Einmal entdeckten wir ein paar große Jungs, die unser Schulgartengemüse geklaut hatten und sich dann in einem Betonkabelelement vor dem Regen verbargen. Ich weiß nicht, was die für die Volkspolizei ehrenamtliche arbeitenden Männer der ABV-Stelle dachten, als wir nassen, Schmutz starrenden Hunden gleich mit welken Kohlrabiblättern winkend in ihr Revierzimmer gestürmt kamen und sie aufgeregt zum Mitkommen in strömenden Regen überreden wollten. „Oh, was für ein aufgeweckter Timur Trupp“, sicher nicht.

Einmal wollten wir einen kleinen Bachlauf vom Unrat befreien. Einen ganzen Tag verbrachten wir damit, ein ersoffenes, faulig aufgeblähtes Schaf aus dem Wasser zu hieven und zu beerdigen. Die einzige Reaktion meiner Eltern war die Sorge ich würde an einer Blutvergiftung erkranken und so musste ich eine Stunde in einer desinfizierenden, braunen Jodidlösung sitzen und dabei die elterliche Schelte über mich ergehen lassen statt mit Kakao und Keksen belohnt zu werden.

Als wir schließlich einer alten Dame, die wir auf der Straße überrumpelt hatten, die Wohnung reinigten und dabei Einiges zu Bruch ging, diese Dame daraufhin uns und unsere Eltern fürchterlich beschimpfte, da verlor der Timur Trupp irgendwie seinen Reiz. Dieser ignoranten Haltung unserer Heldenhaftigkeit gegenüber war er einfach nicht gewachsen.
(kleine Anmerkung: Daraus ist mein Roman "Julia und die Stadtteilritter" entstanden.)

Im folgenden Jahr radelten wir stattdessen an die Baggerseen, badeten nackt, grillten selbstgeangelte winzige Fische über einem Lagerfeuer und knutschten reihum.

Wenn ich später im Westen nach der Schule nachhause kam, gab es meist nicht viel zu tun und manchmal saß ich mit meiner Schwester vor dem Fernseher und wir kratzten, statt zu Mittag zu essen, ein Glas Nutella mit Löffeln aus. In solchen Momenten vermisste ich plötzlich die Schulspeisung der DDR, die den Müttern erlaubte bis zum Abend ohne ein schlechtes Gewissen den Nachkommen gegenüber werktätig zu sein. Obwohl das natürlich romantischer Unsinn war. Denn die Kübel, in die wir unsere Reste kippten und deren nächster Bestimmungsort ein LPG-Schweinehof war, waren immer genauso voll, wie die Kübel mit dem frischen Essen. Außerdem hatten die jeweiligen Inhalte die gleiche Farbe, Konsistenz und Struktur. Die Kübel selber sahen sowieso identisch aus. Im Nachhinein erscheint mir das alles sehr bedenklich. Niemand hätte bemerkt, wenn diese Kübel zur zweiten Mittagspause versehentlich vertauscht worden wären.

Natürlich habe ich mir damals „Good bye, Lenin“ im Kino angeschaut. Und natürlich habe ich geweint. Als in einer mich sehr ergreifenden Szene ein am Helikopter aufgehängter Lenin an der Protagonistin vorbeifliegt und wie flehend die Hand ausstreckt, hätte ich beinahe laut aufgeschluchzt im vollen Kino.
Und ich dachte so bei mir, 
dass eine wie ich, für die die Welt trotz der Mauern groß und voller Abenteuer gewesen war; 
die von Geburt an mit Krippe, Kindergarten, Schule, Pioniergruppe, Verkehrs-AG und Schwimmtraining einen Zeitplan zu erfüllen hatte; 
die Mars und Milkyway mit dem Kosmos in Verbindung brachte, aber Joker und Fetzer lecker fand;
die nicht von der Bravo, sondern in der vierten Klasse von Frau Aschenbach aufgeklärt wurde; 
die nie eine echte Jeans besaß und mit bis übers Knie gekrempelten Hosenbeinen davon ablenken wollte, dass die einzige Hose schon lange zu kurz war; 
dass ich, die aus dem Osten, trotz allem eine schöne Kindheit hatte.

2 Kommentare:

  1. Deine Erinnerungen sind meinen an die Zeit im Neubaugebiet am Silberberg doch recht ähnlich. Ich glaube sogar, die großen Jungs im Schulgarten haben wir gemeinsam entdeckt und "mutig" ausgehorcht. Möglicherweise war ich auch einer der Jungs, dessen Brief in dem Care-Paket enthalten war. Allerdings kann ich mich an den Wetterbericht bei der Meldung zur Stundeneröffnung nur im Russischunterricht erinnern. Ich denke, bis auf das Schulessen und unsere Klassenlehrerin Frau Aschenbach überwiegen doch die schönen Erinnerungen an die Kindheit in der "alten Zeit". Liebe Grüße aus MD, AndreasT

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  2. Liebe Antje, ich bin heute das erste mal auf Deinem blog gelandet...und der Post hier gefällt mir sehr, ich kann mich dank deiner zeilen noch an viele dinge erinnern...denn wetterbericht mussten wir zwar nicht in die meldung mit einbauen, aber dafür, wer gefehlt hat blablablubb.

    wenn man mich fragt, wie es war in der ddr aufzuwachsen, dann kann ich nur sagen - unserer familie hat es nicht wirklich an etwas gefehlt. das hatte aber auch diverse gründe. aber gerade jetzt als zweifache mutter fällt auch mir auf, welch grundlegend gute sachen es gab: arbeitsgemeinschaften von sport bis zu handwerk, die nichts kosteten (guuuut, gibt es bei meinem sohn teilweise auch...), kinderbetreuung auch nach 16 uhr ohne schief angeschaut zu werden, vernünftige/essbare schulspeisung (soweit ich mich zumindest erinnern kann) usw usw...ich sage auch heute noch: es war nicht alles schlecht, auch wenn der ein oder andere immer wieder versucht, diesen standpunkt durchzusetzen...von daher danke für diese zeilen...ich könnte ja mal wieder nach meinem pionierausweis und den 10 geboten kramen ;o)
    ein feines WE

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