Freitag, 3. Oktober 2014

Ohne Freiheit verkümmert die Seele – Zum Tag der Deutschen Einheit


Am 17. Dezember 1983 durfte meine Familie das ehemalige Gebiet der DDR Richtung Westen verlassen. Ich war 12 Jahre alt und wusste nicht so genau, ob ich große Angst vor den Drogendealern haben oder mich darauf freuen sollte, endlich einmal einen Marsriegel kosten zu dürfen.

Wenige Wochen zuvor hatten meine Mutter und ich verzweifelt nach Winterschuhen für mich gesucht und keine gefunden. Darüber waren wir beide sehr traurig. „Die alten gehen noch, wenn ich die Zehen etwas einziehe“, versuchte ich uns zu trösten. Da sagte meine Mutter: „Du wirst in diesem Jahr neue Winterschuhe bekommen, das verspreche ich dir.“ Ich blickte über das traurige Angebot und wunderte mich über dieses Versprechen, in dem ein nahezu drängender Unterton geschwungen hatte.

Die nächsten Wochen machte ich mich nach der Schule dann schon mal auf die Suche nach Weihnachtsschokolade für die Familie. Meine Hausarbeit waren die kleineren täglichen Lebensmitteleinkäufe und im Jahr zuvor war ich an der Weihnachtsschokolade gescheitert: Es hatte zum Entsetzen von uns Kindern schlicht keine gegeben.

Dann war mein Vater mit uns wandern gegangen. Keine große Strecke, nur am alten Kanalbecken entlang hinterm Dorf, in dem meine Großeltern lebten.
„Wir werden bald umziehen“, sagte er.
Ich war gerade sehr unglücklich in Löschi verliebt, der aber mit der schönen Michaela zusammen war, und darum wog ich ab, ob das jetzt eine gute oder eine schlechte Nachricht war.
„Mami und ich haben einen Ausreiseantrag gestellt, der ist jetzt bewilligt worden. Wir ziehen in den Westen.“
Es war eine schier unfassbare Nachricht.
Dann erzählte mein Vater von den letzten zwei Jahren, wie er sie erlebt hatte, in denen wir nicht mehr reisen durften, er seine Arbeit als Laborleiter der Medizinischen Akademie verloren hatte, in denen wir beobachtet wurden und der Antrag willkürlich zwei oder drei Mal abgelehnt worden war. Ohne Freiheit verkümmert die Seele, sie ist das wichtigste Gut des Menschen und dafür muss man kämpfen, lehrte mich mein Vater. Und niemals, niemals habe ich das vergessen.

Im Gegensatz zu vielen anderen, die eines völlig unabsehbaren Abends erst nach der Arbeit erfuhren, dass sie bis 24 Uhr das Gebiet der DDR zu verlassen hatten, die darum jahrelang aus Koffern in einem Zustand des verzweifelten Wartens und zum Teil unter schlimmer Schikane verbrachten, bekamen wir sechs Wochen Zeit, unser altes Leben zusammen zu packen. Es waren verrückte Tage. Nun durfte ich ja alles allen erzählen und meine Schulfreunde wollten noch mehr hören. Das Ganze war einfach nicht zu fassen. Wir saßen in meinem Zimmer und träumten von Freiheit und Milkaschokolade, ich hoffnungsfroh, die anderen wehmütig. „Du musst uns schreiben, wie diese komischen Brötchen mit Bullette in dem etwas anderen Restaurant schmecken“, sagten sie. Wenn sie nach Hause gingen durften sie jedesmal etwas aus meinem Zimmer mitnehmen. Denn ich durfte das ja nicht. Ein Koffer, hieß es. Dass ich den heimlich noch einmal öffnete, um einen dicken Pulli rauszunehmen und mein geliebtes Knuddelkissen hineinzuschmuggeln, schenkte mir den Trost, den ich später doch hin und wieder brauchte.

Unser Zug verließ den Magdeburger Bahnhof kurz vor Mitternacht und ich wusste, ich würde die Menschen, die mich bis dahin begleitet hatten, meine Schule, die Straße in der ich wohnte, meine Heimatstadt, den Dom, in dessen Chor ich sang, das Schwimmbad, in dem ich beinahe jeden Tag trainierte, den Garten und das Häuschen meiner Großeltern niemals wieder sehen. In Helmstedt stiegen wir um. So weit mich meine Erinnerung nicht trügt, mussten wir dort sehr lange warten, denn viel später, draußen war bereits heller Tag, stieg kurz vor Giessen (dort befand sich das Aufnahmelager, in dem wir die erste Woche im Westen verbrachten) eine Mutter mit ihrem Kind zu uns ins Abteil. Der kleine Junge lutschte genüsslich ein Capri Eis, wie ich heute weiß. Damals starrte ich darauf, bewunderte die seltsam zähe Konzistenz und fragte mich, was das wohl sei.

1 Kommentar:

  1. Liebe Antje,
    unvorstellbar für diejenigen, die im Westen aufgewachsen sind. Und ganz schlimm, dass ich in meiner Kindheit und frühen Jugend nicht viel mehr über die Sache wusste, als das Deutschland geteilt ist und dass es "drüben" nicht so komfortabel ist wie "hier". Ich frage mich, ob dieses Thema in unserer Familie totgeschwiegen wurde, oder ob es generell so abgehandelt worden ist. Gut, dass sich alles geändert hat!
    Lieben Gruß
    Gabi

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